Ota Sik war ein engagierter Verfechter der Auffassung, dass es zwischen Kapitalismus und Kommunismus einen dritten Weg geben müsse. Ota Sik war eine der führenden Persönlichkeiten des Prager Frühlings 1968 und wurde nach dem Scheitern der Reformbewegung als Professor für Systemvergleich und Planwirtschaft an die Hochschule St. Gallen berufen.
Ota Sik wurde 1919 in der Tschechoslowakei als Sohn wenig bemittelter Eltern geboren. Die Erfahrung materieller Not führte ihn zum Kommunismus. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei ging Ota Sik als Jungkommunist in den Untergrund. Hitlers Gestapo [Geheime Staatspolizei] spürte ihn auf und steckte ihn ins Konzentrationslager Mauthausen. Mit viel Glück zählte er zu den wenigen Überlebenden. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs und der Nazi-Diktatur bestimmte die Sowjetunion unter Diktator Stalin die Geschicke der osteuropäischen Länder. Ota Sik wurde auch von den Stalinisten verfolgt.
Nach dem Ende der stalinistischen Diktatur stieg Ota Sik in höchste Partei- und Staatsämter der kommunistischen Tschechoslowakei (CSSR) auf. Seine Kompetenz verschaffte ihm aber auch im kapitalistischen Westen Respekt.
Im Prager Frühling von 1968 war Ota Sik einer der führenden Köpfe der Reformbewegung, die einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz anstrebte. Die Hoffnungen auf eine eigenständige Entwicklung wurden jedoch durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes [Bündnissystem des Ostblocks unter Führung der Sowjetunion] am 21. 8. 1968 zerschlagen. Ota Sik setzte sich in die Schweiz nach Basel ab. Im Mai 1969 fuhr er noch einmal nach Prag, um seine Vorstellungen von einem reformierten Kommunismus vor dem Zentralkomitee der KP [Kommunistische Partei] zu verteidigen - doch die verbliebenen Mitglieder des Zentralkomitees, die ihn ein Jahr zuvor beklatscht hatten, lehnten seine Ideen nach dem Diktat aus Moskau rundweg ab und schlossen ihn aus dem Zentralkomitee aus.
Ota Sik kehrte enttäuscht in die Schweiz zurück. Die Hochschule für Wirtschaft St. Gallen (HSG) berief ihn zum Professor für Systemvergleich und Planwirtschaft. Mit unermüdlichem Eifer arbeiteten Ota Sik und seine Studenten nun daran, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus in vielen Büchern konkret aufzuzeigen. Diese Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt, da offizielle China begann sich nach dem Tod von Mao Tse-Tung unter Deng Xiaoping ebenfalls für den "Dritten Weg" zu interessieren.
Die Wende von 1989 (Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa) weckte neue Hoffnung. Der frühere Dissident [Regimekritiker] und neue Staatspräsident der Tschechoslowakei, Vaclav Havel, berief Ota Sik als Berater. Doch die eigentliche Macht lag bei Ministerpräsident Vaclav Klaus, und dieser steuerte die Tschechoslowakei auf einen stramm neoliberalen Kurs. Was Klaus auf einer Tagung vor Zürcher Bankern auf dem Wolfsberg bei Ermatingen (Thurgau) als "adjektivlose Marktwirtschaft" anpries, war letztlich Kapitalismus pur - ohne jeden Ausgleich, wie ihn Westeuropas "Soziale Marktwirtschaft" unter dem Eindruck der Konkurrenz zwischen dem Osten und dem Westen bis 1989 gepflegt hatte. Ota Sik hatte mit seinem Traum vom dritten Weg keine Chance.
Nach dieser Erfahrung zog sich Ota Sik, schon über 70-jährig, aus der ökonomischen und politischen Diskussion zurück und begann zu malen. Die ersten Bilder wirken düster, als ob Ota Sik traumatische Erlebnisse zu verarbeiten hätte - Gründe dazu gäbe es ja in seinem Leben genug! Doch gelang es Ota Sik in den letzten Jahren seines Lebens aus diesem Tief wieder heraus zu finden - seine neueren Bilder sind heiter, der Traum von einer besseren Welt scheint wieder durch.
© 2004 Markus Jud, Luzern | Letztes Update: 11.9.2004 |
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