Schweizer Chronik des 21. Jahrhunderts / Jahresrückblicke


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Globalisierungskritik und Populismus 2015 - 2017

Globalisierung und Wirtschaftswachstum

Es wird hier als Fakt anerkannt, dass die Globalisierung und der freie Welthandel sowohl für stärker wie auch für weniger stark industrialisierte Länder seit etwa 1990 bis 2008 insgesamt zu einer Zunahme des Wohlstands (gemessen am Bruttosozialprodukt) geführt hat. Regionale Abweichungen von dieser Erfahrung der letzten Jahrzehnte lassen sich in der Regel mit anderen Faktoren (z.B. bewaffneten Konflikten, Dürrekatastrophen usw.) erklären. Allerdings ist das Bruttoinlandprodukt pro EinwohnerIn in der Schweiz seit 2008 (77783 Fr.) bis 2015 (77943 Fr.) mit geringen Schwankungen von Jahr zu Jahr im Wesentlichen nicht mehr gewachsen.
Quelle: Bundesamt für Statistik.

Ebenso unbestreitbar ist, dass in Europa und Nordamerika in der gleichen Zeit ein starker Strukturwandel stattgefunden hat, die Arbeitslosigkeit insbesondere bei klassischen Arbeitern gestiegen ist und die Einkommensunterschiede zwischen Arbeitern und Managern massiv gewachsen sind.

Erstarken populistischer Parteien

Gleichzeitig erhalten in Europa und Nordamerika populistische nationalistische Parteien mit ihrer Forderung nach Rückkehr zu einer national orientierten (protektionistischen) Wirtschaftspolitik immer mehr Zulauf.

Häufig wird nun von Akademikern unterstellt, die Wähler der populististischen Parteien seien einfach nur dumme Hinterwäldler und würden gegen ihre eigenen Interessen handeln. Es gibt allerdings gute Gründe, an dieser Unterstellung zu zweifeln.

Es dürfte mittlerweile bekannt sein, dass menschliche Intelligenz verschiedene Aspekte hat. Wer nur die rein kurzfristige Gewinnmaximierung als rationales Verhalten betrachtet und die langfristigen Auswirkungen für die gesamte Bevölkerung und die Entwicklung der Gesellschaft ausblendet, hat ein sehr verengtes Verständnis von Rationalität und sollte sich daran erinnern, dass alle bisherigen Hochkulturen irgendwann untergegangen sind. Der Grund dafür war praktisch immer ein Phänomen, das gemeinhin als «Dekadenz» bezeichnet wird und Aspekte wie extreme Ungleichheit und masslosen Luxus der Oberschicht enthält.

Gerechtigkeit und Solidarität als Entscheidungskriterium

Ausgehend von der Beobachtung, dass gleichzeitig mit der Globalisierung eine Umverteilung des Wohlstands von der Unterschicht zur Oberschicht stattgefunden hat, möchte ich hier aufzeigen, dass das Empfinden für Gerechtigkeit für die meisten Menschen einen ganz wesentlichen Einfluss auf wirtschaftliche und damit auch poltische Entscheidungen hat.

Die meisten Menschen - selbst ziemlich egoistische - lassen sich bei wirtschaftlichen Entscheidungen nicht nur vom maximalen eigenen Nutzen leiten, sondern berücksichtigen auch den Nutzen für ihre Familie oder andere Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlen. Diese Verbundenheit mit der eigenen Grossfamilie hat in Westeuropa und Nordamerika in den letzten Jahrzehnten abgenommen. Im Zusammenhang mit der Globalisierung ist sie bei Migranten aus ärmeren Herkunftsländern aber nach wie vor extrem wichtig. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass in Staaten wie Mexiko ein wichtiger Teil (rund ein Drittel) des BIP aus Überweisungen von Migranten an ihre im Herkunftsland gebliebenen Familien stammt.

Die Solidarität gegenüber behinderten und alten Menschen oder Gruppen, die sich unter widrigen Umständen durchschlagen (z.B. Bergbauern) ist auch in reichen Industrieländern hoch, wenig Verständnis wird allerdings Leuten entgegen gebracht, die als «faul» oder gar als «Schmarotzer» wahrgenommen werden.

Verschiedene psychologische Experimente zeigen nun, dass das Gerechtigkeitsempfinden bezüglich der Verteilung von Einkommen und Gewinnen einen wichtigen Einfluss auf Entscheidungen hat.

In einem Experiment von Werner Güth (1982) werden mehreren hundert Versuchspersonen paarweise die Rollen «A» und «B» zugewiesen. «A» darf einen Vorschlag zur Aufteilung von 1000 $ auf «A» und «B» machen, «B» kann diesen Vorschlag annehmen oder ablehnen. Bei einer Ablehnung erhalten beide nichts.

Würden die Versuchspersonen in der Rolle «B» nur nach dem Prinzip der kurzfristigen Gewinnmaximierung handeln, müssten sie jeden noch so geringen Vorschlag von «A» annehmen - denn die Alternative hiesse ja, dass beide gar nichts bekommen.

Im Experiment lehnt allerdings eine Mehrheit der Versuchspersonen in der Rolle «B» Angebote unter 300 $ ab. Die Macht, einen extrem unfairen Spielpartner zu «bestrafen» scheint also in diesem Spiel den Verzicht auf 300 $ Wert zu sein.
Mehr dazu hier und hier.

Globalisierung und Verteilungsgerechtigkeit

Was hat dies nun mit der Globalisierung bzw. der Kritik daran zu tun?

Erstens gibt es viele Leute, deren Arbeitsplätze durch die Globalisierung verloren gegangen sind und die heute weder eine vergleichbare Arbeit noch die damit verbundene soziale Anerkennung finden. Wer Sozialhilfe (bzw. Hartz IV) bezieht, hat wirtschaftlich und bezüglich sozialem Status kaum mehr etwas zu verlieren.

Zweitens sind die Gewinne zum grössten Teil von einer kleinen Elite für sich beansprucht worden. Dies ist allgemein bekannt, gerade auch den Leuten, die durch den Strukturwandel in der Wirtschaft arbeitslos geworden sind oder keine ihren Fähigkeiten entsprechende bzw. entsprechend entlöhnte Arbeit gefunden haben. Für diese wachsende Zahl von Personen zählt nicht der gestiegene Durchschnittswert (Bruttosozialprodukt), sondern die Tatsache, dass für sie selbst davon wenig bis nichts abfällt bzw. sie sogar wirtschaftliche Verlierer dieser Entwicklung sind.

Übesetzt auf das beschriebene Experiment entsteht folgendes Bild:
Der versprochene Gewinn von 1000 $ ist auch für die Wutbürger durchaus sichtbar, aber Spieler «A» (die politische und wirtschaftliche Elite, zu der man spätestens seit Tony Blair (GB), Gerhard Schröder (DE) und Moritz Leuenberger (CH) auch die Berufspolitiker der Sozialdemokraten zählt) hat ein unfaires Angebot gemacht und ein wachsende Anzahl von «B»-Spielern (Handwerker, Angestellte) wird mit einer Gewinnbeteiligung abgespeist, die als grob unfair wahrgenommen wird.

Verhalten sich die Wähler und Wählerinnen, die sich selbst oder deren Familien unfair behandelt fühlen, ähnlich wie im Experiment, werden sie das «Angebot» der Eliten ablehnen.
Dies hat nichts mit Dummheit oder der Unfähigkeit zu tun, die Folgen einer Wahlentscheidung zu überblicken, es ist vielmehr Ausdruck eines zutiefst verletzten Gerechtigkeitsempfindens und der Verzweiflung darüber, dass anscheinend nur noch das «Ziehen der Notbremse» den Wahnsinn stoppen kann. Zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit sind diese Leute sogar persönliche Opfer zu bringen bereit.

Die Eliten haben das Wesentliche nicht begriffen

Betrachtet man die heutige politische Situation in Europa und Nordamerika unter diesem Gesichtspunkt, so sind nicht die Wutbürger «dumme Hinterwäldler», sondern im Gegenteil vielmehr die Eliten begriffsstutzig und beratungsresistent. Die Eliten pokern in ihrer masslosen Gier viel zu hoch und riskieren damit, dass durch den in gewisser Weise revolutionären Protest gegen die Globalisierung gleich auch noch wesentliche demokratische Institutionen wie die Pressefreiheit und die Gewaltenteilung stark beschädigt werden (siehe USA unter Trump) und das «europäische Friedensprojekt» EU insgesamt in Frage gestellt wird.

Wer wider jede oekonomische Vernunft und trotz des offensichtlichen Scheiterns der Einheitswährung Euro dogmatisch und mantraartig wiederholt, dass es zum Euro und zur Personenfreizügigkeit keine Alternative gebe, sei daran erinnert, dass Dogmen den wirklichen Fortschritt und überlebenswichtige Fehlerkorrekturen nicht fördern sondern verhindern. Dies gilt für moderne «Ersatzreligionen» z.B. für die vorherrschende neoliberale Schule der Oekonomie genauso wie für die klassischen Religionen. Elitäre Arroganz und Einbildung zeugen leider nicht von wirklicher Bildung, sondern von deren Fehlen.

Ausweg aus der Populismus-Sackgasse

Der einzige Ausweg aus der gegenwärtigen politischen Sackgasse ist - ich verwende hier bewusst den biblischen Begriff - die Umkehr der Eliten. Nur wenn die Eliten (insbesondere auch die Parteileitung der Sozialdemokraten) anerkennen, dass sie in den letzten Jahrzehnten unfair gespielt und die Befindlichkeit der Unterprivilegierten ignoriert haben und wenn sie zu einer echten Rückkehr vom «neoliberalen Kapitalismus» zur «sozialen Marktwirtschaft» Hand bieten, kann das gefährliche Spiel mit den Scheinlösungen der Populisten gestoppt werden.

Damit meine ich allerdings nicht das Aufwärmen einer längst überholten plakativen Klassenkampf-Rhetorik aus dem vorletzten Jahrhundert (was die SP Schweiz 2016 gerade versucht hat), sondern eine nüchterne Analyse der heutigen wirtschaftlichen Realitäten und Lösungen, die nicht intellektueller tönen als die Scheinlösungen der Populisten, sondern einfach besser durchdacht sind und in einer verständlichen Sprache präsentiert werden.

Nur wenn die Eliten bereit sind, die Demokratie und ihre Institutionen wirklich anzuerkennen und zu respektieren, haben diese eine Überlebenschance. Dazu gehört auch, die Wut der Wutbürger Ernst zu nehmen und diese nicht als «dumme Hinterwäldler» zu beschimpfen. Mit der Demokratie steht viel auf dem Spiel - u.a. politische Stabilität und Rechtssicherheit. An sich wüssten die Eliten, dass gerade auch die Wirtschaft darauf nicht verzichten kann - jedenfalls gilt in den Berichten der OECD «politische Stabilität» als Standortvorteil.

Einzelne positive Ansätze sind bereits sichtbar. So hat z.B. die New York Times nach der Wahl von Donald Trump bemerkt, dass ihre vorwiegend liberalen Journalisten eigentlich keine Ahnung haben, was draussen auf dem Lande so abgeht, weder im «Rust Belt» (wo die Industrie 1.0 zerfällt) noch im «Bible Belt». Über die Befindlichkeit der BürgerInnen in dieser Hälfte des Landes will die Zeitung in Zukunft mehr berichten ...
mehr dazu.

Auch der Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, rückt deutlich von Schröders «Agenda 2010» ab und gibt zu, dass da Fehler gemacht wurden und es wichtig sei, diese zu korrigieren. «Vor allem Hartz IV, ein Kernstück der Agenda, hat Angst erzeugt. Nicht nur in den unteren Schichten, sondern auch in der Mittelschicht, vor einem schnellen Absturz ins soziale Abseits nämlich. Genau in der Gruppe also, die Schulz als "hart arbeitende Mitte der Gesellschaft" ansprechen will. ... Es geht aber nicht nur ums Geld. Es geht auch um Würde und soziales Ansehen. Hartz-IV-Empfänger zu sein, ist ein Stigma. Erst recht wenn man vorher vielleicht Vorarbeiter in einem Industriebetrieb war, Programmierer oder Angestellte in einer Verwaltung.» (Ludwig Greven in einem Kommentar zu Wahlkampfaussagen von Martin Schulz in der wertkonservativen Zeitung DIE ZEIT.)

Bereits Wirkung gezeigt hat eine erste Kurskorrektur, die von der SPD in der grossen Koalition durchgesetzt wurde: Der Mindestlohn.


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